- Nowgorod: Handelsmacht im Norden
- Nowgorod: Handelsmacht im NordenNordwestrussland mit der Handelsmetropole Nowgorod und der Beistadt Pleskau verdankte seine auffallende Sonderstellung in altrussischer Zeit den kommerziellen Nutzungsmöglichkeiten eines weiten kolonialen Hinterlandes, das sich zeitweise bis über den Ural erstreckte, und der verkehrsgünstigen Lage am Kreuzungspunkt alter Handelsrouten, die das innerrussische Flusssystem des Dnjepr und der Wolga an die Ostsee anbanden. Ursprünglich im unmittelbaren Einzugsbereich der frühen warägischen Niederlassungen gelegen, war das Nowgoroder Territorium nach der Zusammenführung der nördlichen und südlichen Warägerherrschaften 882 zu einem strategisch wichtigen Nebenland des Kiewer Großfürsten geworden. Seine hauptsächliche Aufgabe war es, über die Wasserstraße entlang des Wolchows und durch den Ladogasee zur Newa den Verbindungsweg zur Ostsee und nach Nordeuropa zu kontrollieren und abzusichern.Vom Kiewer Nebenland zur städtischen AutonomieIn der Frühzeit wurde die Stadt nahe am Ilmensee von Vertrauensleuten des Großfürsten verwaltet und häufig dem ältesten Fürstensohn als Herrschersitz zugewiesen. Die Beziehungen zum Großfürsten in der Kiewer Metropole waren nicht ohne Komplikationen. Schon 1014 soll Jaroslaw als Statthalter in Nowgorod seinem Vater Wladimir I. die Abführung des üblichen Tributes verweigert haben. In der 2. Hälfte des 11. Jahrhunderts scheuten die selbstbewussten Bewohner Nowgorods auch vor Gewaltmaßnahmen nicht mehr zurück, um sich der Bevormundung des Kiewer Großfürsten zu entziehen. Sie vertrieben unliebsame Fürsten und versuchten, die Geschicke der Stadt in die eigene Hand zu nehmen. Im offenen Konflikt mit der Fürstenmacht wurde schließlich 1136 bis 1137 aus dem Kompetenzbereich des bisherigen Kiewer Stellvertreters ein eigenes Bürgermeisteramt (russisch posadnik, niederdeutsch borchgreve) abgetrennt, das unter der Beteiligung der städtischen Volksversammlung (russisch wetsche) von Mitgliedern der grundbesitzenden Bojarenfamilien besetzt wurde. Dem Fürsten blieb seit dem Ende des 12. Jahrhunderts nur noch ein vertraglich festgelegtes Mitwirkungsrecht am Stadtregiment vorbehalten, das sich weitgehend auf militärische Führungsaufgaben beschränkte. Als gemieteter Dienstfürst hatte er seine Residenz außerhalb der Stadtmauern zu nehmen. Die innerstädtischen Amtsträger — der Bürgermeister, der Tausendschaftsführer (ursprünglich der Stadtkommandant) und seit 1156 auch der oberste Repräsentant der Nowgoroder Kirche, der Bischof (seit 1165 Erzbischof) — wurden als Wahlbeamte in die gemeinsame Verantwortung vor der Stadtversammlung eingebunden.Die Wetsche-DemokratieBei den Vertretern der liberalen russischen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts fanden die sich entwickelnden republikanischen Verfassungsstrukturen der Stadtrepublik Nowgorod als Gegenmodell zur ungeliebten moskowitischen Autokratie besondere Aufmerksamkeit. Slawophile Kreise haben in den städtischen Volksversammlungen die Urformen des altslawischen demokratischen und genossenschaftlichen Geistes entdecken wollen. Übersehen wurden dabei die enormen sozialen Unterschiede in der Nowgoroder Stadtbevölkerung. Sie begünstigten die Oligarchie, die Herrschaft einer kleinen Gruppe, und die Plutokratie, eine Herrschaftsform, bei der die politische Macht auf Besitz und Vermögen gründet, und eröffneten einigen wenigen Familienklanen bei der Einberufung und Durchführung der Stadtversammlungen und bei der Besetzung der städtischen Ämter vielfältige Einflussmöglichkeiten, die das Idealbild einer unmittelbaren Demokratie erheblich verdüstern. Im 14. und 15. Jahrhundert waren zum obersten städtischen Leitungsgremium, dem Herrenrat, nur noch Vertreter eines exklusiven Kreises ratsfähiger Geschlechter zugelassen. Das Bürgermeisteramt wandelte sich zu einem kollektiven Repräsentationsorgan der einzelnen Stadtteile. Durch die Einführung mehrerer gemeinsam amtierender »Bürgermeister« und ein ausgeklügeltes Rotationssystem sollte unter den konkurrierenden Familien und Stadtteilältesten für eine ausgewogenere Teilhabe an der Macht gesorgt werden.Die Handelsmetropole NowgorodDas Stadtareal Nowgorods war in fünf eigenständige Verwaltungs- und Gerichtsbezirke (russisch koncy, eigentlich »Enden«) aufgeteilt. Drei lagen auf dem westlichen Wolchowufer, der Sophienseite mit der Burganlage und der berühmten Sophienkathedrale, zwei auf dem östlichen Ufer, der Handelsseite mit den Kaufmannsniederlassungen. Den fünf Stadtteilen entsprachen fünf Landesteile im weiteren Umfeld der Stadt, die seit dem 12. Jahrhundert im Zuge einer fortschreitenden wirtschaftlichen Erschließung als Warenlieferanten an den städtischen Markt angebunden wurden. Zum »Land der heiligen Sophia«, wie der Herrschaftsbereich Nowgorods auch genannt wurde, zählten außerdem mehrere Beistädte — u. a. Isborsk, Welikije Luki, Staraja Russa, Torschok und bis zur Trennung im Jahre 1347 auch Pleskau.Reichtum und Macht der stolzen Handelsmetropole beruhten auf der Wirtschaftskraft einer zahlenmäßig kleinen Stadtaristokratie, der vornehmlich Großgrundbesitzer und einige wenige reiche Kaufmannsfamilien angehörten. Nowgorod war Umschlagplatz sowohl für den ost-westlichen Handelsaustausch und den Transithandel über die Ostsee zum Orient wie für den binnenrussischen Warenverkehr. Als größter Pelzmarkt Europas und als Wachslieferant lockte die Stadt Händler aus allen Regionen an. Im 14. Jahrhundert lieferten die Nowgoroder Bojaren in zunehmendem Maße auch Rohstoffe wie Häute, Leder, Hanf, Flachs, Pech und Pottasche, die auf ihren Landgütern gewonnen wurden. Zu den bevorzugten Importwaren für den russischen Markt zählten Tuche aus Flandern, England und Deutschland, Tafelsalz, Silber und Edelmetalle, aber auch Met, Wein sowie Glaswaren.Die günstige Anbindung Nowgorods an die Ostsee hatten schon im 11. Jahrhundert bäuerliche Seefahrer Gotlands für Handelsgeschäfte ausgenutzt. In der Gegenrichtung suchten Nowgoroder Händler Visby, die norddeutschen Küstenstädte und Dänemark auf. Als sich in der Mitte des 12. Jahrhunderts aus der Genossenschaft der Gotland besuchenden deutschen Kaufleute die Keimzelle der Hanse entwickelte, folgten lübeckische, westfälische und sächsische Kaufleute den Spuren der gotländischen Nowgorodfahrer. Sie fanden in Nowgorod zunächst Aufnahme in der gotländischen Handelsniederlassung, dem Gotenhof, mit der erstmals um 1180 erwähnten Kirche des heiligen Olav. Später bemühten sie sich um gesonderte Niederlassungsrechte und gründeten Anfang des 13. Jahrhunderts den Sankt Peterhof. Das Nowgoroder Hansekontor gab sich eine eigene Satzung, die nach dem Aufbewahrungsort des Dokuments Schra (Schrein) benannt wurde. Sie enthielt detaillierte Anweisungen zur Führung des Kontors unter einem Oldermann und vier »Weisesten« und zur Aufsicht über die Liegenschaften sowie Regelungen der Aufenthaltsdauer der Sommer- und Winterfahrer und des Warenumsatzes. Seit dem 15. Jahrhundert löste schrittweise ein Hofknecht den Oldermann ab.Der deutsche RusslandhandelNowgorod konnte seine unangefochtene Position als Anlaufstelle für den deutschen Russlandhandel nicht lange behaupten. Nach der Gründung Rigas 1201 und der Eroberung Livlands durch die Ordensritter zogen die livländischen Städte den einträglichen Handel auf der Düna an sich und stellten die älteren hoheitlichen Rechte Nowgorods und seiner Beistadt Pleskau im ostseefinnischen und lettischen Gebiet infrage. Vergleichbare Grenzstreitigkeiten drohten im Norden des Finnischen Meerbusens seit der Mitte des 12. Jahrhunderts, als der schwedische König zu mehreren Kreuzzugsunternehmungen gegen die heidnischen Finnen aufrief und seinen Herrschaftsanspruch bis auf die Karelische Landenge auszudehnen versuchte. Um die schwedischen Eroberungen vor den Nowgorodern abzuschirmen, ließ der schwedische Marschall Tyrgil Knutsson 1293 die Grenzfestung Wyborg errichten.Zur Verteidigung ihrer Interessen in Finnland und im Ostseehandel scheuten die Nowgoroder Bojaren auch vor Waffengewalt nicht zurück. 1187 ließen sie von den verbündeten Kareliern das befestigte schwedische Handelszentrum Sigtuna am Mälarsee niederbrennen. Aus der damaligen Kriegsbeute stammt die berühmte Bronzetür der Nowgoroder Sophienkathedrale. Mit diesem Überraschungsangriff riskierte man die Inhaftierung russischer Kaufleute bei den Ostseeanrainern und einen vorübergehenden Handelsboykott. Aus den fortdauernden Grenzgeplänkeln entwickelte sich ein halbes Jahrhundert später ein größerer militärischer Konflikt, dem wegen des zeitgleichen Mongolensturms im nationalrussischen Geschichtsverständnis schicksalhafte Bedeutung beigemessen wird. Im Jahre 1240 musste der spätere Großfürst Alexander im Auftrag Nowgorods die Schweden an der Newa abwehren. Mehrere Verträge Nowgorods mit Gotland und den deutschen Städten seit Ende des 12. Jahrhunderts bezeugen, dass von einer Erbfeindschaft keine Rede sein kann, sondern alle Parteien an einvernehmlichen Regelungen und an einem friedlichen Handelsaustausch interessiert waren. Deutsche Kaufleute haben im September 1323 in Schlüsselburg schließlich den Frieden zwischen Nowgorod und Schweden vermittelt. Er sollte auf Jahrhunderte den Grenzverlauf festschreiben und die Teilung Kareliens besiegeln.Der UntergangBesonders rabiate Verfechter Nowgoroder Bojareninteressen waren die Uschkuiniki des 14. Jahrhunderts, die als Flusspiraten mit ihren wendigen Booten wolgaabwärts bis zum Kaspischen Meer Furcht und Schrecken verbreiteten. Ihrem Treiben wurde erst durch das erstarkte Moskauer Fürstentum Einhalt geboten. Der Aufstieg Moskaus zur nordostrussischen Führungsmacht engte die Bewegungsfreiheit Nowgorods immer mehr ein. Der Stadt waren wohl die verheerenden Folgen der Eroberungszüge der Tataren erspart geblieben. Die neuen Herren Russlands hatten sich mit freiwilligen Tributzahlungen begnügt. Die Abhängigkeit von der Getreidezufuhr aus dem »Unterland« machte Nowgorod aber verwundbar und erpressbar. Die Stadtführung suchte sich in der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts vergeblich den aus Moskau drohenden Gefahren durch eine engere Anlehnung an Litauen zu entziehen. Zur Symbolfigur des Nowgoroder Widerstandes wurde die legendäre Bürgermeisterswitwe Marfa. Großfürst Iwan III. entschied sich daher noch in den 1470er-Jahren für ein militärisches Vorgehen, mit dem er der Stadt einen Friedensvertrag aufzwingen konnte, der ihre Freiheitsrechte erheblich einschränkte. Den Winterfeldzug von 1477/78 schloss er mit der vollständigen Unterwerfung und einem Strafgericht über die Rädelsführer der antimoskowitischen Fraktion ab. Die Wetscheglocke als Symbol Nowgoroder Unabhängigkeit ließ er abhängen und nach Moskau überführen. Enteignungen und Zwangsumsiedlungen sollten die störrischen Bojaren gefügig machen. 1494 wurde der Sankt Peterhof vorübergehend geschlossen. Er hat nach seiner Wiedereröffnung 1514 nie mehr die alte handelspolitische Bedeutung erlangt.Die Kultur vermittelnde Rolle NowgorodsNowgorod hat in die moskowitische Periode der russischen Geschichte ein kulturgeschichtlich bedeutsames Erbe eingebracht. Als eine mittelalterliche Großstadt, die in ihrer Blütezeit 20 000 bis 25 000 Menschen in ihren Mauern beherbergte, hatte sie wie keine andere altrussische Stadt urbane Lebensformen entwickelt.Flächengrabungen der letzten Jahrzehnte haben Überreste erstaunlicher städtebaulicher Einrichtungen und handwerklicher Fertigkeiten freigelegt. Mit den Birkenrindenurkunden wurden Zeugnisse eines bis dahin unbekannten mittelalterlichen Schreibstoffes entdeckt. Es handelt sich um kurz gefasste Texte, die auf die weiche Innenseite kleiner Rindenstücke eingeritzt wurden. In ihrem Inhalt spiegeln sich die unterschiedlichsten Informationsbedürfnisse wider, die sich in der Alltagspraxis einer städtischen Gesellschaft einstellten. Die von den Zerstörungen der Tatarenzeit ausgenommenen Kunstsammlungen und Handschriftenbestände der Nowgoroder Kirchen und Klöster sind zu einem Reservoir des überkommenen kulturellen und kirchlichen Erbes geworden. Nach dem Ende der tatarischen Fremdherrschaft sind aus den Nowgoroder Beständen Reliquien, Handschriften, Ikonen und Kultgegenstände an die zerstörten Städte im Moskauer Russland abgegeben worden. Metropolit Makarij, ehedem selbst Erzbischof in Nowgorod, hat sich für seine enzyklopädischen Sammlungen der altrussischen literarischen Traditionen, die er in der Zeit Iwans IV., des Schrecklichen, in Auftrag gab, vornehmlich dieser Nowgoroder Sammlungen bedient.Nowgorod war aber nicht nur der Hort der alten Überlieferungen, sondern auch Einfallstor westlicher Anregungen und Neuerungen, die über die Ostseeverbindungen vermittelt wurden. Noch in den Neunzigerjahren des 15. Jahrhunderts brachte der Lübecker Drucker Bartholomäus Ghotan Kölner und Lübecker Druckerzeugnisse nach Russland. An den Übersetzungsarbeiten zur Gennadijbibel am erzbischöflichen Hof waren westliche Helfer beteiligt. Eine Folge dieser Öffnung zum Westen war eine ernsthafte »Krise der Traditionen« an der Wende zum 16. Jahrhundert. Sie äußerte sich in theologisch-wissenschaftlichen Kontroversen um Astrologie und Astronomie sowie um Methoden der Zeitrechnung und in der Rezeption westlicher weltlicher Erzählstoffe. Nicht zufällig spürte der aus Moskau entsandte Nowgoroder Erzbischof Gennadij innerhalb der Nowgoroder Geistlichkeit die »häretischen« Umtriebe der Judaisierenden auf, die er und der streitbare Abt Joseph von Wolokolamsk mit harschen inquisitorischen Methoden auszurotten versuchten. Und nicht ohne Grund gaben importierte Ikonen aus den Westgebieten, die nach dem verheerenden Brand Moskaus von 1547 als Malvorlagen ausgeliehen worden waren, in Moskau Anlass zu einem Streit um die richtige Malweise.Prof. Dr. Edgar HöschGrundlegende Informationen finden Sie unter:Mongolensturm und Goldene Horde: Blutige Morgenröte über RusslandDonnert, Erich: Altrussisches Kulturlexikon. Leipzig 21988.Hösch, Edgar / Grabmüller, Hans-Jürgen: Daten der russischen Geschichte. Von den Anfängen bis 1917. München 1981.Hösch, Edgar: Geschichte Rußlands. Von den Anfängen des Kiever Reiches bis zum Zerfall des Sowjetimperiums. Stuttgart u. a. 1996.Onasch, Konrad: Großnowgorod und das Reich der Heiligen Sophia. Kirchen- und Kulturgeschichte einer alten russischen Stadt und ihres Hinterlandes. Leipzig 1969.
Universal-Lexikon. 2012.